Der Text ist historisch und Claus Peter Lieckfeld hat seither viele Portrait, Reportagen, Romane, Gedichte und Geschichten zur Leben und Umwelt-Thematik geschrieben.
Viel Vergnügen also:
Wolfgang Meiners, studierter Chemiker, erklärt: "Der aktive Hamster ist glücklich, wenn er tüchtig rennt, sich alles um ihn dreht. In Wirklichkeit bewegt sich natürlich absolut nichts von der Stelle. Nur sein Laufrad rotiert. Umweltschützer sind manchmal von so einer Art betriebsblinder Selbsttäuschung nicht weit entfernt. Sie versetzen ihre nächste Umgebung in Rotation, hetzen sich ab und . . ."
Doch der so spricht, mit Spaß an der Pointe, gestenreich, aber immer etwas defensiv, um sein Gegenüber zum gedanklichen Gegenstoß einzuladen, dieser Wolfgang Meiners ist alles andere als ein Frustrierter, kein Kriegsveteran verlorener Öko-Schlachten.
"Ich versuche für Lehrer, Umweltschützer und Kommunalpolitiker machbare Ideen zu sammeln; oft reicht es zu erklären, daß dieses und jenes an anderem Ort schon erfolgreich gelaufen ist", sagt Meiners und fügt lachend hinzu; "Ich bin ein Öko-Animator ohne finanziellen Background. Und das hier ist meine Basisstation."
Ich schaue mich um. Auf den ersten Blick ein Haus für Aussteiger, Traum jeder Landkommune oder auch Wunschobjekt für betonmüde Stadtflüchtlinge. Hochaufragend aus der Küstenlandschaft am Jadebusen wölbt sich ein kolossales Dach über die Holzkonstruktion. Gulfhaus nennen die Kenner diese Hauspersönlichkeiten, die seit Jahrhunderten in eine Landschaft gehören, deren einzige Sensation die horizontweite Plattheit ist. Windstabile Balkenkonstruktionen mit Holzzapfen geben dem Westwind zentimeterweise nach, wenn er feuchtatmig über die Deichkuppe springt und flach auf dem Land liegt.
Das Haus der Meiners, auf der Butjadinger Halbinsel zwischen Wattenmeer, Jadebusen und Wesermündung gelegen, wurde als großer Bauernhof vor rund hundert Jahren vom Urgroßvater des heutigen Besitzers errichtet. Daß es gleichwohl keine Alternativwohnkutisse wurde mit stilecht restaurierter Edelpatina und dem Kunstschmiede-Chic derjenigen, die den Fertigbau-Chic verachten, liegt allein am Besitzer, an seinem schwindsüchtigen Portemonnaie und an seiner Einstellung zum Wohnen: "Die großen Friesenhäuser leben, sie beleben auch ihre Bewohner."
Das Gulfhaus am Südrand des Örtchens Iffens lebt vielfälig. Da wäre vorrangig die ein jährige Tochter, Anna Marieke, die am liebsten mit einem etwas vermischten ungarischen Hütehund über die Dielen krabbelt. Da wäre das Ehepaar Meiners, die Grundschullehrerin Gesine und der Pädagoge per Zufall, Wolfgang, 36 Jahre, einssechsundneunzig groß, mit dem etwas vorgeneigten Gang derer, die häufig gegen den Wind gehen. Da wären im Sommer einige Urlauber, denen der bescheidene Komfort im Gulfhaus genügt und die den spröden Charme dieser Landschaft mögen.
All das ist nichts, was besonderes Augenmerk verdiente umfaßte das Haus nicht noch eine andere Dimension. Der ausgedehnte Viehstall und die Dreschdiele bergen eine Do-ityourself-Landschaft, ein Arsenal machbarer Ideen, eine Baustelle für Optimisten, eine Zukunftswerkstatt in mehreren Etagen.
Über der Jaucherinne im ehemaligen Kuhstall stapeln sich in Regalen aus holländischen Tomatenkisten Konzepte - eine Eingreifbibliothek für Veränderer, die sich gruppenweise oder einzeln unter dem
Dach einnisten können.
Für den "Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland" (BUND) rüstete Meiners zwei Drittel des 52 Meter langen Hauses zur Öko-Station Iffens um. Kurse, Studienaufenthalte oder gar Öko-Praktika finden statt. Öko-Praktikantin Veronika erforschte im vergangenen Sommer, kurz nach bestandenem Abitur, die Fauna des Wattenmeeres und nahm Ölproben am Strand des Jadebusens. Vor allem aber forschte sie nach innen: ob denn solche Tätigkeit das sein kann, was ihr beruflich vorschwebt.
Schulklassen und Gruppen schickt Meiners mit Fragebögen und Forschungsangeboten über Land. Dabei geht es nicht nur um naturwissenschaftliche Fragen (etwa: wieso kann das einzige schwimmende Moor Europas im Vordeichland des Jadebusens bei Sturmflut auf dem Salzwasser schwimmen?); spannend erscheint Meiners vor allem der Grenzbereich, wo geisteswissenschaftlich-soziologische Fragestellungen an naturwissenschaftliche stoßen.
Eine Gruppe ermunterte er, die Leiterin eines privaten Kleinzoos im nahen Jaderberg nach deren Verständnis von Natur und Artenschutz zu befragen.
Die Ernsthaftigkeit der Forschung, die Ideenflut, die plötzlich aufspringt, wenn man nur wenige Gedanken und Konzepte vorgibt, "sind für mich so eine Art Wärmezufuhr, damit ich neue Ideen ausbrüten kann", sagt Meiners.
Das Kunststück dabei ist, sich nicht an den lokalen Verhältnissen zu erkälten.
Butjadingen hat schlimme Wunden. Über die Meerenge, dort, wo sich der Jadebusen zur See hin öffnet, drohen die Ölpiers von Wilhelmshaven; ein gespenstisches Menetekel, eine Neonflammenschrift im Nebel, Vorankündigung einer Ölpest, von der man selbst in Bonn weiß, daß sie, statistisch gesehen, schon überfällig ist. Nördlich davon siedelt ICI, der Chemiegigant, an dem sich die Umweltschützer der Region die Zähne ausbeißen. Für Meiners ein Schulbeispiel, wie geschulte Taktiker der Industrie Bürgerinitiativen austricksen können: "In dramatischen Nachtsitzungen wurde den ICI-Leuten abgerungen, daß Chlor hier nicht produziert wird. Millimeterweise haben sie nachgegeben. Wenig später wurde bekannt, daß im Werk zum Zeitpunkt des "Verhandlungssieges" schon klar war, daß die gefährliche Chlorproduktion mit wenigen Auflagen ein paar Kilometer landeinwärts verlagert wird." Meiners lächelt, wo die meisten bitter würden.
Er lacht selbst über die Firma Kronos Titan in Nordenham, die zu verstehen gab, demnächst die Dünnsäureverklappung bei Helgoland einzustellen, aber seit März vorigen Jahres die Verklappungsmenge erhöht hat. Und ohne die angemessene Bitterkeit sagt er, daß an der Wesermündung, wo Preussag, Guano und Asbestos siedeln, "mit Ausnahme von Thallium alle Elemente, die im Periodensystem der Atome vorkommen, in Luft, Wasser und Erde vertreten sind".
Wie darf man da heiter bleiben? Wo bleibt der heilige Ernst, mit dem man als Umweltschützer existenzielle Kämpfe führt?
Ein Stückchen Antwort kann man sich im Gulfhaus des Dr. Meiners zusammensammeln. In der Etage über dem umgewidmeten Kuhstall, auf dem Heuboden, ist "Morgen-Land"-Gelände für Leute, die auch morgen noch bewohnbares Land unter den Füßen haben wollen. Die Ideen vieler Kurse, ÖkoPraktiker und Alternativ-Urlauber haben sich hier verflochten: Fotos, Zeichnungen und Collagen vom Watt, Ideen für Umweltüberwachungen (Bäume, Rauchfahnen, Gewässerschäden), improvisierte Ausstellungen zum mobilen Einsatz bei Vorträgen und Aktionen.
"Zu mir kommen Leute, die sich nicht mit der Niederlage der Umwelt abfinden wollen. Leute, die Vorschläge ausdenken wollen. Konstruktive Vorschläge kann man nämlich schwerer abschmettern als Kritik", sagt Meiners. Er hat es ausprobiert. Mit Leuten des örtlichen Heimatbundes ist er über Land gefahren und hat alles, was ihn "landschaftsprägend" dünkte, registriert und katalogisiert: alte Backsteinornamente, Sieltore, vorgeschichtliche Wohnhügel, Sommerdeiche, alte Bauerngärten...
Nostalgie? Nein: "Ein Kommunalpolitiker, dem man im Beisein der Presse diese Liste in die Hand gedrückt hat, kann später schlecht sagen, er hätte nicht gewußt, daß diese oder jene Baumaßnahme soviel Butjadinger Substanz fordert. Unser Fehler ist doch, daß wir den Politikern immer erst dann sagen, was unverzichtbar ist, wenn es schon akut bedroht oder bereits zerstört ist. Und auch die Bauern. Die reagieren oft überraschend positiv, wenn einer die alte Tränke in ihrer Weide, ihre Kopfweidenallee oder die hölzernen Hecktore toll findet. Plötzlich sind sie stolz, etwas zu haben, was offenbar selten ist. Man muß sich in der Kunst des Lobens üben . . ."
Die hat der gelernte Chemiker schon häufig entfaltet. Etwa im Garten eines Nordenhamer Spatenfreundes, der sich an der von Meiners konzipierten Aktion "Schöner Garten" beteiligt hat. "Ich habe gar nicht erst versucht, ihm seine Gartenzwerge madig zu machen. Die richten ja auch keinen ökologischen Schaden an. Ich konnte ihm aber klarmachen, daß standortgerechte Obstkulturen besser sind als Blautannen. Ich hab' ihm einfach Dias von alten Bauerngärten gezeigt. Die Kritik an den Blautannen steckte in den Dias." Pädagogen haben dafür einen schönen Begriff: "entdekkendes Lernen", ein Unterrichtsprinzip, das sich häufig genug im Schulalltag nicht hochhalten läßt. Es erfordert Ideen, die nicht jeder hat, und schon gar nicht im richtigen Moment.
Im Frühjahr 1980 hat Meiners daher begonnen, nach Schweizer Vorbild und im Auftrag des Bundes für Umweltund Naturschutz (BUND), Ideen für die Schulpraxis zu sammeln. Viermal im Jahr erscheint sein "Lehrerservice", eine Loseblattsammlung von Einfällen, Adressen, Konzepten und Möglichkeiten. So hat es sich zum Beispiel für Grundschulen als ungemein wirksam erwiesen, Schüler auf Klassenreise zum Auftakt einer Unterrichtseinheit über "Wasser" auf minimale Flüssigkeitsration zu setzen, um ihnen dann zu erklären, daß Menschen in den heißesten Regionen der Erde täglich nur einen Bruchteil dieser Wassermenge zur Verfügung haben.
Schulgärten, so fand Meiners heraus, will fast jeder Biologielehrer. Aber spätestens in den großen Ferien schießt das Gartenkonzept wortwörtlich ins Kraut, weil sich keiner den Beeten widmet. Bewährt hat sich dagegen die Symbiose mit einem Rentner, dem ein eigener Schrebergarten fehlt und der zugleich Schulkinder mag. Kolumbuseier: einfachste Ideen, auf die man schwer kommt.
Wie jeder gute Banker arbeitet Ideen-Börsianer Meiners nicht nur mit gedanklichem Eigenkapital, sondern versucht "Ideen anderer aufzuarbeiten, umzusetzen, auszuprobieren. Es wäre schon ganz schön schlimm, wenn wir gesellschaftliche Alternativen suchen und dabei an einem herkömmlichen Urheberbegriff kleben bleiben. Gute Ideen werden geklaut, weil sie gut sind, schlechte kann man für sich behalten."
Zu sehen, wie Einfälle ausfallen, wenn man sie in die Unterrichtswirklichkeit einfallen läßt, hat Meiners selbst reichlich Gelegenheit. An vier Wochentagen unterrichtet er zwecks Broterwerb am Gymnasium in Varel, in einem gewerkschaftlichen Fortbildungswerk und in einer Feuerwehrschule in Bremerhaven. Jeden Mittwoch um acht Uhr hängt in einer Reihe säuberlich ausgerichteter blauer Feuerwehruniformen ein obskurer Ledermantel von der Art, wie man ihn an winterkalten Demonstrationstagen in Frankfurt oder Westberlin trägt. Im Unterrichtsraum setzt sich der Kontrast fort. Vorne wirft ein schlaksiger Lehrkörper Formeln und witzige Demonstrationsbildchen an die Tafel, in den Reihen hocken kreuzbrave Feuerwehrmannen, blauuniformiert, die erfahren wollen, was denn der atomare Kern all ihrer Anti-Feuerwaffen ist.
Man weiß im Kreis der Lehrgangsteilnehmer, wen man vor sich hat, und schmunzelnd nimmt man zur Kenntnis, daß die Ionenbindung beim Salz eben nicht am Frühstücksei, sondern an den versalzenen Alleebäumen erklärt wird. "Das Prinzip der Klosterschule", sagt Meiners, "die Lehre qua Nebensatz und in kleinen Portionen." Auf Meiners, Schreibtisch türmen sich die Konzepte zu einem neuen "Service"-Rund brief. Es gilt, ein Adressennetz von Fachleuten aufzubauen. Lehrer sollen zum Beispiel wissen: Jeweils am Mittwochabend kann man den Fachmann Soundso in Essen anrufen, wenn man über Greifvögel oder Jagd unterrichten will und selbst um Material und Ideen verlegen ist. Und am Montag zwischen 18 und 20 Uhr sitzt eine Stadträtin in Kempten/ Allgäu am Telefon, die bereit ist, Tips zu geben, wie Naturschutz in der Kommunalpolitik schulwirksam dargeboten werden kann. "Und so weiter, falls nicht alles daran scheitert, daß das Geld nicht reicht." Meiners lacht wieder und krümmt sich über die Schreibmaschine.
Wie kann man da lachen? Vielleicht nur ein Schutz? Hab' ich Meiners, den ganzen Meiners, überhaupt verstanden? Fehlen da nicht einige energische Federstriche mit dunkler Farbe? Etwa: Die harte ökonomische Existenz eines Mannes, der sich stundenweise in Volkshochschulen den Lebensunterhalt zusammenverdient, um ökologisch tätig sein zu können. Einbußen im Familienleben? Ganz natürliche Karrieregelüste? Ist da nicht die Versuchung, etwas zu tun, was dem Ausbildungsstand eines Diplomchemikers mit Doktortitel angemessener ist als die basispädagogische Bastelarbeit in der Provinz?
All das wollte ich eigentlich herausfragen während eines ausgiebigen Abschiedsfrühstücks. Aber Meiners hatte ein besseres Thema. Er zeigte mir ein Marmeladenglas: "Selbsteingelegte Quitten." Ich seh' erst mal nur den eklig grünen Schimmelpelz oben drauf. Meiners bemerkt, daß mir ein Ausdruck von schwindender Eßlust ins Gesicht kommt. "Der Obstschimmel dringt nicht ins Eingemachte und ist ungiftig. Man muß die Schicht nur abheben und spart sich dabei chemische Konservierungsmittel. Das wissen viele nicht, und von diesem fehlenden Wissen lebt eine Industrie."